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Blind ist nicht gleich blind - Wir über uns

Wir, die Klasse 9 a, setzten uns mit dem Thema "Wahrnehmungen und Vorstellungen von Blinden und Sehenden" im täglichen Leben auseinander. Auslöser für heftige Diskussionen und weiterführende Untersuchungen - wie z.B. Interviews und die Beschäftigung mit Naturgedichten unter diesem Aspekt - war das Jugendbuch "Behalt das Leben lieb" von Jaap ter Haar, das wir im Rahmen des Deutschunterrichts behandelten. Darin geht es um einen Jungen, der mit 15 Jahren durch einen Unfall erblindet. Im Mittelpunkt stehen die Probleme, welche er und seine Umwelt aufgrund dieser vollkommen neuen Situation bewältigen müssen.

Schon nach dem 3. Kapitel verfingen wir uns in engagierten Gesprächen, da sich zu verschiedenen Themen die unterschiedlichsten Vorstellungen und Meinungen bildeten. Uns wurde zum ersten Mal so richtig bewusst, wie sehr sich die Vorstellungen und Wahrnehmungsweisen von Geburtsblinden und Späterblindeten unterscheiden, aber auch die der Geburtsblinden untereinander. In unserer Klasse sind wir neun Geburtsblinde und zwei Späterblindete. Hier einige Bruchstuecke unserer Diskussionen und Untersuchungen.

"Du hast keine Ahnung vom Blindsein!" - "Ihr habt keine Ahnung, wie die Welt wirklich aussieht!"

Während der Besprechung eines Naturgedichtes behauptete einer unserer Späterblindeten, dass die Mehrheit unserer Klasse nur eine vage Vorstellung von einem Sonnenuntergang habe. "Für euch ist es doch egal, ob ihr morgens oder abends am pazifischen Ozean mit seinem 'phosphoreszierenden' Himmel steht." Grosse Entrüstung in unserer Runde: "Du redest vom Blindsein wie ein Sehender!" Und jetzt geht's los! Wir beginnen erstmalig, uns gegenseitig über unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten auszutauschen, unser unterschiedliches Interesse an visuellen Eindrücken zu entdecken und unsere Blindheit überhaupt in Worte zu fassen.

Anja, die noch einen geringen Sehrest hat, erfasst ihre Umwelt folgendermassen: "Ich lebe wie in einem kleinen Raum, wo ich das meiste mit den Augen erfassen kann. Alles ausserhalb dieses Raumes kommt durch Geräusche zu mir, mit deren Hilfe ich auf die Dinge draussen schliessen kann. So kann ich mir eine Vorstellung von allem machen und damit diesen Raum erweitern." Fast alle von uns Geburtsblinden konnten sich mit diesem oder ähnlichen Bildern identifizieren: in einem begrenzten, vertrauten Raum zu leben, in dem ich im Alltag beständig aktiv und mit allen Sinnen aufmerksam sein muss, um ihn so gut wie möglich zu erweitern.

Felix und Sebastian vergleichen ihre Erfahrungen mit Blindheit. "Man könnte denken", meint Felix, "dass es die Späterblindeten leichter haben als ich, weil sie weitaus bessere Vorstellungen von der Welt haben. Doch nach meiner Ansicht ist für die Späterblindeten ihre Behinderung ein viel tieferer Einschnitt in ihr Leben, den ich nie erfahren habe - ein plötzlicher Sturz in die Abhängigkeit." Das kann Sebastian nur bestätigen: "Nach meinem Unfall musste ich die banalsten Tätigkeiten im Alltag wieder neu erlernen, so z. B. Kleidung an der Form erkennen, Kochen, Einkaufen, das Orientieren mit dem Stock. Sehr oft bin ich seelisch am Boden und grüble über den Sinn meines jetzigen Lebens nach. In den alltäglichsten Situationen, in denen ich als Sehender spielend klarkam, muss ich mit der Blindheit fertigwerden. Sich von weitem erkennen, Kontakt aufnehmen durch Blickkontakte, Gesten ...was tritt an diese Stelle?"

"In jahrelangem Erlernen stossen wir sehr oft an die Grenzen unserer eigenen Fähigkeiten ", so Felix weiter. "Ich persönlich habe erfahren müssen, dass ich mir oft selbst den Weg versperre, sei es aus mangelnder Motivation oder aus Wut. Für Sebastian ist es das Schwierigste, seine Blindheit zu akzeptieren, aber auch ich muss mich mit meiner Situation - immer wieder 'Begrenzung' zu erfahren - auseinandersetzen. Mein Motto lautet: Ich finde mich nicht mit meiner Blindheit ab, sondern kämpfe um jede Gelegenheit, sie ein Stück weit auszugleichen."

Bei unseren Diskussionen und beim Lesen der Naturgedichte wurde uns immer wieder deutlich, wie wichtig das Sehen für die Sehenden ist, für ihr Selbstverständnis und das Wahrnehmen ihrer Umwelt. Wir erfahren beispielsweise, dass Sebastian - auch nach mehreren Jahren Blindsein - das Erleben von Umwelt und Natur im Gegensatz zu uns vor allem mit visuellen Eindrücken verbindet. Uns fällt auch auf, dass in den Gedichten sehr viele mit den Augen wahrnehmbare Bilder benutzt werden, um die Natur zu beschreiben, z.B. den Herbst:

Das ist ein Abschied mit Standarten Aus Pflaumenblau und Apfelgrün. Goldlack und Astern flaggt der Garten, Und tausend Königskerzen glühn. oder: ... leuchten wie auf grünen Fliesen. Bäume bunt und blumenschön.

(E.Kaestner)

Durch all diese Erfahrungen begriffen wir, wieviel das Sehen für den Menschen bedeutet und auch, wie schlimm es für ihn sein muss, es zu verlieren.

Was uns Geburtsblinde und das Lesen von Privatlektüre angeht, haben wir auch völlig verschiedene Gewohnheiten und Einstellungen festgestellt. Den einen interessieren Beschreibungen - z.B. von Landschaften, Kleidung, Beschaffenheit der Dinge - nur insoweit, als er sie selber nachvollziehen kann. Und ... er überblaettert die für ihn langweilige Passage. Der andere liest gerade diese Beschreibungen aufmerksam, um möglichst viel von dem kennenzulernen, was er selbst nicht wahrnehmen kann. Und ... findet das spannend.

Nachdem wir uns lange mit unseren persönlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen beschäftigt haben, kam das Interesse auf festzustellen, wie Sehende uns wahrnehmen. Also zogen wir in Kleingruppen los und interviewten Passanten in der Stadt. Wir stellten Fragen wie: Wie stellen sie sich das Blindsein vor? Was verstehen Sie unter dem Begriff "Blindenanstalt"? - An den Antworten merkten wir deutlich, dass die Leute in Marburg im Alltag oft mit Blinden zu tun haben. Uns fiel aber auch auf, dass viele, obwohl sie nahe bei der Blista wohnen, kaum etwas von dieser Einrichtung wissen und sich auch nur wenig oder überhaupt nichts unter einer Blindenanstalt vorstellen können. Für mich persoenlich war vor allem die Erfahrung wichtig, Leute anzusprechen, ohne zu wissen, wie sie wohl reagieren werden (Anja).

Linie, Ecke, Tor! - Zum Thema Sport

Annelies, David, Marc und Michi gehören als Geburtsblinde zu den Sportbegeisterten und müssen sich fragen lassen: Kann ein Blinder überhaupt die Kompetenz haben, über die beliebtesten Sportarten der Sehenden zu fachsimpeln, ohne dass es peinlich wird? Sich über Volleys oder Aufschläge auslassen, ohne je auf einem Tennisplatz gewesen zu sein?

Dazu Marc und Michi:"Tennis im Fernsehen wahrzunehmen, ist zunächst einmal etwas schwierig, weil man vom Spiel selbst nur die gleichmaessigen Schlaege hören kann. Achtet man jedoch auf Schiedsrichter, Linienrichter und Fernsehkommentatoren, so ist man bald über den Spielstand und die Fähigkeiten der Spieler informiert. Nach längerer Übung kann man den Spielverlauf auch ohne Fernsehkommentator verfolgen. Es ist möglich, mit dem Gehör Netzangriffe von Grundlinienspiel zu unterscheiden, allerdings nicht die einzelnen Schläge. Manche Spieler kann man auch an ihrer Art zu stöhnen erkennen. Um allerdings einen noch besseren Eindruck zu erhalten, empfiehlt es sich, schon einmal mit Ball und Schläger auf dem Tennisplatz gestanden zu haben, auch wenn wir nie in der Lage sein werden, richtig zu spielen."

Annelies zum Skirennen: "Wenn ich mir im Fernsehen ein Skirennen 'anschaue', bin ich sicher ebenso gespannt und fanatisch wie jeder Sehende auch, der sich für diesen Sport begeistert. Ich kriege zwar nicht jede Kurve, jeden Rutscher oder Sprung mit, aber ich habe den Kommentar und höre die Skier über den Schnee gleiten. Da ich selbst seit vielen Jahren Ski fahre, kann ich mir eine - natürlich beschränkte - Vorstellung von der Rennstrecke und der Umgebung machen. Für mich zählt aber nicht in erster Linie die Technik eines jeden Fahrers. Ich lege sehr viel Wert auf die Persönlichkeit des Sportlers, z.B. wie er sich in Interviews gibt."

Zum Schluss schildert David seine Erfahrungen rund um den Fußball: " 'Nun macht mal dem Jungen Platz! Der sieht ja gar nichts!' Mit einem innerlichen Schmunzeln lasse ich mich ein wenig nach vorne schieben, bis ich die Metallstange an der Hand spüre. Die zweite Halbzeit beginnt, und der Platz an meiner Stange geht mir schnell wieder verloren. Nach einem Elfmeter, der eine Riesenstimmung auslöst, frage ich meinen Nachbarn, ob er mich nicht mit aus dem Stadion nehmen könnte. Er geht vor, und als wir uns ausserhalb des Stadions befinden, wo wir uns in einer vernünftigen Lautstärke unterhalten können, fragt er mich: 'Hat das überhaupt Sinn für einen Blinden, ins Stadion zu gehen, ich meine, du kriegst ja gar nicht viel mit vom Spiel?' Während wir zur U-Bahn gehen, erkläre ich ihm, dass ich mir im Fernsehen noch einmal die Zusammenfassung anhöre. Auch ein Radio- oder Zeitungsbericht und Interviews helfen, ein Spiel zu 'überblicken' und mir ein Urteil zu bilden. Ins Stadion selber nehme ich fast nie ein Radio mit, achte eher auf die Reaktionen der Zuschauer. Anhand der Atmospäere kann ich den Verlauf des Balles nachvollziehen. Man erkennt die verschiedenen Stadien an ihrer Akustik. Wenn eine Radioübertragung beginnt und der Reporter etwas verzögert anfängt zu sprechen, erkenne ich aus den Hintergrundgeräuschen, um welches Stadion es sich handelt. Aus all diesen Informationen und eigenen Erfahrungen mit dem Ball (z. B. Ballspiele mit Klingelball) setzt sich meine Fußballkenntnis zusammen."

Obwohl die meisten von uns schon über zwei Jahre in derselben Klasse sind, haben wir uns in den letzten Wochen noch besser kennen- und verstehen gelernt. Weil man über seine Blindheit sehr selten ernsthaft redet, finden wir es wichtig, das Thema "Blindsein - Sehen" auch in der Schule zu behandeln.

Klasse 9 a:1994-95

Svenja Fabian, Marc Fälker, Tobias Fechner, David Georgi, Felix Grützmacher, Nermin Hasic, Vladislav Kutsenko, Anja Michels (Michi), Annelies Müller, Anja Pfaffenzeller, Sebastian Veit, M. Haug-Gottschalk (Klassenlehrerin)