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Erinnerungen vom Band

Von Marc Schürmann

Statt mit einem Fotoalbum sammeln blinde Menschen mit Ton-Aufnahmen die Erinnerungen ihres Lebens. Wo Sehende nur auf stumme Bilder blicken, reisen Blinde so immer wieder in vergangene Welten.

Wenn Carsten Albrecht in seinem Erinnerungsalbum blättert, setzt er die dick gepolsterten Kopfhörer auf, setzt sich auf sein Sofa und versinkt in der Kulisse, ist wieder dort, wo er damals war, zum Beispiel am Gate A10, Flughafen München, ein Geräuschbett aus Stimmengemurmel, kling klöng klappern die Flaschen, ping peng schießt ein Kronkorken über den harten Boden, kommt fünfmal auf, ein Rumpeln, ein Zischen, eine Männerstimme ruft Hey-hey!, metallenes Rütteln wie von einem Gepäckwagen, eine Frau im Lautsprecher sagt Aschtung bittä, eine Informasion für Paris Charles de Gaulle, Air France fünfundzwanzisch einundzwanzisch das Ausgang at sisch geändert es ist jetzt der Ausgang D fünfzehn attention si vouz plais … … und Carsten Albrecht spürt wieder, wie aufgeregt er damals war, im Frühjahr 2003, die Minuten strichen dahin, und sein Flug wurde nicht ausgerufen, bis er die Aufnahme beendete und man ihm hastig sein richtiges Gate wies, Gate A6, nach Hamburg.

Was hätte Albrecht auf einem Foto erfassen können? Einen Wartesaal, Papierkörbe, gebohnerten Boden, Menschen mit Gepäck und Zeitungen. Nichts würde sich bewegen, nichts würde geschehen, nichts würde dokumentieren, wie der Moment sich anfühlte. Es sind die Töne, die Albrechts Erinnerungen speichern, von einem Foto hätte er sowieso nichts, er ist von Geburt an blind.

Blinden bleibt nichts als das Geräusch, wenn sie Augenblicke festhalten wollen – Riechen, Tasten und Schmecken sind nicht archivierbar. Ein Blinder hört unentwegt, sowieso. In der Wohnung von Carsten Albrecht ist sogar der Klorollenhalter ein Radio, im Einkaufszentrum findet er den Metzger, sobald jemand einen Schinken bestellt, er kann hören, ob ein Auto vor ihm auf dem Gehsteig parkt, weil es auch dem Schall den Weg versperrt.

Wer sehen kann, nimmt anders wahr, erinnert auch anders – Sehende unterwerfen sich ihren Augen. Wir wissen, wie etwas aussieht und haben dafür Worte, die Farbe einer Küchenzeile, die Form einer Wiese, aber wann erinnern wir uns schon daran, wie es klingt, wie es lebt? Man könnte sagen, wir kennen das Booklet unseres Lebens besser als den Soundtrack. Und wie lange können wir einer Radiosendung zuhören, ohne noch etwas anderes zu tun? Das Bild blendet die anderen Sinne aus. Selbst das Handy, ein Gerät zum Sprechen und Hören, wird dank SMS ein Botschafter der Augen.

Albrechts Vergangenheit findet sich auf rund 40 CDs und hundert Kassetten, markiert mit den gestanzten Punktzeichen der Blindenschrift. Er führt mir besondere Aufnahmen vor, etwa das Begrüßungshupen zweier Passagierschiffe an der westnorwegischen Küste im Juni 1998: Albrecht steht an der Reling der MS Lofoten, man kann die Weite erahnen, die Kälte, fast kann man sogar die Wasserfunken in seinem Gesicht spüren, so rauscht das Wasser. Die meisten Erinnerungen aber sind Schnappschüsse: Straßenfest, Fischmarkt, Fußweg zur Arbeit, wo Albrecht Computer-Hilfsmittel für Blinde testet. Es ist viel zusammen gekommen seit der Kindheit, Albrecht ist 43 Jahre alt, ein kleiner Mann mit durchdringender, knarziger Stimme. Ich begleite ihn zu einer Ampel, er steckt sich die Mikrofone in die Ohren wie Kopfhörer. Kunstkopfmikrofone, auf die Technik schwört er, weil man später beim Abhören auch links von rechts und vorne von hinten unterscheiden kann. In der linken Hand hält er das Mini-Disc-Gerät, so bleiben wir acht Minuten stehen, hinter uns gehen Leute bei »Minimal« ein und aus, vor uns bremsen Autos und fahren wieder los, eine Familie überquert die Straße, das Licht zwischen den Bäumen ist fahl, es ist furchtbar langweilig. Aber zurück in Albrechts Wohnzimmer nimmt die Szene ein Leben an, das mir sehend verborgen blieb: Rattern Brummen Klackern eine Frauenstimme plappert Auto Auto der Wind braust Auto tiefes Brummen harte Schritte Flaschenklappern Auto Auto Stille Paff Scheppern es schwatzen Männer ein Kind quengelt Mama Mama ein dumpfes Bohren wie beim Zahnarzt schweres Brummen … … und in diesem Wohnzimmer, in dem keine Bewegung das Auge ablenkt, ziehen mich die Töne dahin. Es ist so ungewohnt, einer Szene zuzuhören statt zuzuschauen, dass mir alles fremd und aufregend erscheint, die Motoren, die Schritte, die acht Minuten sind kurz. Es sind Geräusche darunter, die Albrecht nicht zuordnen kann, das Klappern von Metallstützen unter einer Einkaufstasche, die er nicht sehen konnte – aber das ist ihm egal. Wenn er einem blinden Freund eine Aufnahme leiht, dann skizziert er nur kurz, wo sie entstanden ist. »Den Rest füllt die Phantasie«, sagt Albrecht.

Genau darum geht es: Phantasie. Würde man dieser Geräuschkulisse Bilder hinzufügen wie bei einem Videofilm – die Sehenden wären so aufs Bild fixiert, dass sie den Ton nur noch nebenbei mitbekämen. Bilder ersetzen die Phantasie, deswegen ist das Sehen so bequem. Und manchmal enttäuschend – wie jeder weiß, dessen Lieblingsbuch verfilmt wurde. Außerdem: Welche Chance sollen die Bilder einer Straßenkreuzung bei Augen haben, die im Fernsehen schon mittelalterliche Schlachten, explodierende Tankstellen und afrikanische Nomadenstämme gesehen haben?

Was die Töne am stärksten von den Bildern unterscheidet, sind menschliche Stimmen. Nachdem eine Freundin von mir im Sommer 2002 bei einem Autounfall gestorben war, versetzten mir Fotos von ihr einen Stich. Als ich aber ihre weiche Stimme auf einer Aufnahme hörte, brach ich zusammen: So nah, so heftig war plötzlich die Erinnerung.

Und ein Schnappschuss von einer Party zeigt verklebte Augen in lachenden Gesichtern – aber nicht, was die Gesichter sagen, rufen, murmeln. Der blinde Münchner Christian Seuß hält oft bei Partys das Mikrofon hin: Seuß hat zum Beispiel noch eine Aufnahme von Silvester 2000: Hey-heeyyy! dröhnt ein Mann im Singsang, eine Rakete zischt, Prosit Neujahr! nuschelt einer, Max! Max! ruft eine Frau mit klarer, warmer Stimme, Mami Mami wir haben da ZWEI Raketen angezündet, quietscht ein Kind, n’ Neues, Neues, lallt einer.

Seuß ist Landesgeschäftsführer des Bayerischen Blindenbundes und er hat auch seine Hochzeit aufgenommen, 28. Mai 1988, da war er 27, dazu die Taufe vom Ältesten, Max, 17. Oktober 1989, er hat den Rekorder mitlaufen lassen, wenn die Kleinen spielten, es gibt Szenen von Urlauben auf Wangerooge und in Marokko, er kann nachhören, wie er sich in die Nordsee vorwagte und wie er mit einem Straßenhändler um ein Teeservice feilschte. Mutters 70. Geburtstag, Schwiegervaters 65., das Klassentreffen, insgesamt hat er an die 60 Kassetten von je 90 Minuten. Als er ein paar davon vorspielt, reichen ihm zwei, drei Sekunden, und er weiß, an welchem Tisch bei welchem Fest er bei wem gesessen hat, er erinnert sich an die Stimmung. Manchmal ist er erst beim Abhören so gerührt, dass die Tränen kommen. »Und wenn ich morgen sehen könnte, ich würde genauso weiter Aufnahmen machen«, sagt Seuß mit seiner sanften Stimme. »Meine Lieblingsgeräusche sind Glockenläuten und das Plätschern eines Baches.«

Das Lieblingsgeräusch von David Georgi ist der Jubel in einem vollen Fußballstadion. Georgi, 26, sichtbar sportlicher Student der Anglistik, Politik und Geschichte in Marburg, schätzt seine Sammlung auf 60000 Tore. Die hat er aus dem Radio mitgeschnitten, an einem Spieltag laufen fünf Rekorder zugleich, Bayern 1, SWR 1, HR 1, WDR 2, BBC, dazu speichert er Meldungen über Vereine, Spieler, Verbände, es ist, sagt Georgi, wie Zeitungsausschnitte stapeln, sein Lieblingsverein ist der FC Liverpool.

Mit dieser Leidenschaft ist Georgi den Sehenden noch am nächsten, weil seine Aufnahmen indirekte Erinnerungen sind, von anderen kommentiert und gesendet – andere Fans sammeln Artikel und Panini-Bilder. Georgi spricht sich aber auch selbst Reportagen ins Mikrofon, wenn er ins Stadion geht, zum Beispiel im Artemio-Franchi-Stadion des AC Florenz. Und bei besonderen Gelegenheiten schneidet er auch die Welt außerhalb des Fußballs mit, exotische Geräusche von seinen Reisen: das Gewusel eines Busbahnhofs in Ecuador, das Zirpen eines Dschungels, das Quaken, Zwitschern, Rauschen, Fiepen und Schreien von Tieren, die sich irgendwo im Buschwerk des Urwaldes verbergen. Und so beeindruckend die Fotos eines fernen Landes auch sein mögen: Erst Georgis Aufnahmen öffnen einem die Tür, durch die man das Land betreten kann und für ein paar Minuten selbst im Dschungel stehen. Ich erkenne kein Tier, ich sehe kein Blatt, aber das ist egal, weil ich in meinem eigenen Urwald bin, es ist, wie Carsten Albrecht gesagt hat: Die Phantasie füllt den Raum.

Die nächsten Aufnahmen will Georgi in Italien und Portugal machen, er will dokumentieren, wie unterschiedlich die Fans in den Stadien sich anhören. Seuß will weiter sammeln, besonders die Familienfeste, nur Trauerfeiern mag er nie aufnehmen. Albrecht wünscht sich die Töne von einem Rettungshubschrauber, der nebenan beim Altenheim landet. Oder von einem Segelflug.

Alle Aufnahmen müssen die Blinden nicht selber machen. Auf der Internet-Tauschbörse www.soundman.de können sie sich auch mit fremden Erinnerungen versorgen. Albrecht hat zum Beispiel die Geräuschkulisse eines Waldes bei Hannover in seinem Archiv, es zwitschert ein einsamer Vogel über das entfernte Rattern einer Straße. Die Klangbilder ziehen nicht nur Blinde an, meint Albrecht. »Ich glaube sogar, die meisten Leute in der Tauschbörse sind Sehende.«

Erschienen, Juni 2005 im Jugendmagazin Neon